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Wie jedes Jahr am zweiten Advent stellt Oma eine Schale mit Lebkuchen auf den Tisch, giesst mir eine Tasse heissen Kakao ein und zündet feierlich eine Kerze an. Dann setzt sie sich mit einem leisen Seufzen in ihren Lieblingssessel und nimmt ihr altes Tagebuch in die Hand. Das Buch ist fast so alt wie Oma und der lilafarbene Einband hat mindestens genauso viele Falten wie sie.

Und mit einem Mal ist er wieder da – dieser spitzbübische Schalk in ihren Augen. Langsam und behutsam öffnet sie das Buch und ehe ich mich versehe, wirbeln Tausende von kleinen Silberkörnchen durch die Stube.

Erst nach einer Weile wird die Sicht wieder klarer. Doch etwas ist anders. Nein, alles ist anders! Meine Oma sitzt nicht mehr vor mir, sie hält mich an der Hand. Ich höre, wie eine Gruppe Kinder ein Weihnachtslied singt. Ein weisshaariger Mann winkt mir zu und sagt mit anpreisender Stimme: «Zuversicht zu verschenken – Zuversicht fürs neue Jahr!»

Ich blicke zu meiner Oma und noch bevor ich etwas sagen kann, flüstert sie mir leise ins Ohr: «Willkommen auf dem Weihnachtsmarkt der Wunder!» Dann drückt sie mir eine Tüte heisse Marroni in die Hand: «Damit du nie wieder frieren musst.» Als sie meinen ungläubigen Gesichtsausdruck sieht, ergänzt sie: «Diese Papiertüte ist mehr als bloss eine Tüte. Sie wird auch dann noch warm sein, wenn alle Marroni gegessen sind. Und sie wird dein Herz erwärmen, wenn du dich einmal alleine fühlst.» Staunend nehme ich sie in die Hand und eine wohltuende Wärme breitet sich in mir aus.

Wie schön dieser Markt doch ist! Überall stehen bunt verzierte Tannenbäume. Es riecht nach Glühwein, Zimtsternen und Mandarinen. Die Leute sind freundlich und strahlen, als ob schon heute Weihnachten wäre.

Oma bleibt stehen. Sie suche ein ganz besonderes Exemplar, murmelt sie mehr zu sich als zu der Frau hinter dem Marktstand. Ihr Blick schweift langsam über die vielen bunten Kerzen, die vor ihr auf dem Tisch stehen. «Du darfst eine auswählen. Diese Kerze wird dir dein Leben lang Licht schenken und dir in Momenten des Zweifelns ein weiser Ratgeber sein.»

«Oma, das geht doch gar nicht!», protestiere ich. «Jede Kerze ist irgendwann geschmolzen. Wie soll diese denn so lange leuchten können? Und wie kann eine Kerze Ratschläge geben, wenn sie nicht sprechen kann?»

Ich wähle eine sternenförmige Kerze aus Bienenwachs aus. Meine Fragen jedoch bleiben unbeantwortet. Statt Oma weiter zu löchern, nehme ich ihre Hand und lasse mich von ihr weiterführen. Mittlerweile hat es angefangen zu schneien. Wie in einer Ballettaufführung tanzen die Flocken am nächtlichen Winterhimmel, während der Mond den Weihnachtsmarkt in ein sanftes, magisches Licht taucht.

«Ein Fläschchen Schmunzeltropfen», höre ich meine Oma sagen und sehe, wie sie dem bärtigen Mann hinter dem Holztisch fröhlich zuzwinkert. Noch bevor ich darüber nachdenken kann, was meine Oma gekauft hat, tippt sie mir sanft auf die Mundwinkel. Sofort muss ich anfangen zu lachen. Ist das ein Zufall? Um meine Zweifel aus der Welt zu schaffen, benetze auch ich meinen Zeigfinger mit den Schmunzeltropfen und berühre voller Neugier Omas Mund. Herzhaft fängt diese an zu lachen und sagt: «Die sind für dich, damit du das Lachen nie verlernst!»

Vergnügt schlendern wir weiter, bis wir schliesslich an einen leeren Marktstand kommen. Dort bleibt Oma stehen: «Auf dem Weihnachtsmarkt der Wunder ist alles möglich. Jeder bietet das an, was ihm im Leben besonders wichtig ist. Dieser Stand ist für dich. Was möchtest du den Menschen mit auf den Weg geben?»

 

PDF der Weihnachtskarte 2009