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Es ist bereits dunkel, als Lina mit klammen Fingern ihren Briefkasten leert und die Stufen zu ihrer Wohnung unter die Füsse nimmt. «Jetzt einen heissen Tee mit Honig und dazu ein paar selbst gemachte Weihnachtsguetsli», geht es ihr durch den Kopf, während sie die volle Einkaufstasche auf den Boden stellt und im Kamin ein Feuer entfacht.

In ihrem flauschigen Flanellpulli macht es sich Lina auf ihrem alten Schaukelstuhl bequem. Während sie die Guetslidose öffnet, dampfen über ihrem Tee kleine, fein duftende Wolken in die Stube. Genüsslich steckt sich Lina einen Zimtstern in den Mund, schaut ihre Post durch und zieht überrascht einen hübschen, kleinen Holzstern aus dem Stapel mit Rechnungen und Prospekten.

«Dein Glücksjahr» steht in schnörkliger Schrift auf der Vorderseite dieses Sterns. Und hinten: «Was hat dich in dem zu Ende gehenden Jahr glücklich gemacht? Freu dich an deinen Glücksmomenten, komm am letzten Tag des Jahres in den Festsaal des alten Schlosses und schreib deine Gedanken in das goldene Buch.»

«Kein Absender», flüstert Lina verwundert, während sie den schmucken Stern von allen Seiten betrachtet. «Und welches goldene Buch?»

Mit dem geheimnisvollen Stern in der Hand schliesst sie die Augen und flüstert gedankenverloren: «Die stillen Lesestunden zu Hause machen mich glücklich.» Und während sie sich noch tiefer ins Kissen kuschelt: «Einen Winterspaziergang über den knirschenden Schnee finde ich wunderbar. Aber auch der erste Kaffee am Morgen ... eigentlich gibt es so vieles, was mich ...» Noch bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hat, schläft Lina ein.

Und das nicht nur an diesem Abend, sondern an jedem einzelnen Tag in ihren Weihnachtsferien. Denn jedes Mal, wenn sie über ihr Glück sinniert, schläft sie mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit ein. Doch am Silvesterabend wacht Lina auf, schlüpft in ihren grünen Wollmantel und macht sich auf den Weg zum Schloss. Sie betritt den Festsaal und traut ihren Augen nicht. Der Saal ist voller Menschen. Es sind so viele, dass Lina sie nicht zählen kann.

Doch trotz der vielen Menschen herrscht eine feierliche Stille. Alle Blicke sind auf die Bühne gerichtet. Dort liegt ein grosses, goldenes Buch, das den gesamten Saal in ein warmes Licht taucht. Ein älterer Mann schreibt mit einer Feder etwas in das Buch. Niemand sagt etwas, als auf der weissen Wand hinter dem goldenen Buch seine Worte erscheinen: «Ich bin glücklich, weil ich nach meinem Unfall wieder gehen kann.»

Bereits beugt sich ein kleiner Junge über das magische Buch und in Kinderschrift steht auf der Wand: «Wenn mein Mami einen Schokoladekuchen bäckt, macht mich das froh.» Eine junge Frau umarmt ihre Freundin, bevor auch sie zur Feder greift und schreibt: «Ich bin glücklich, dass es dich gibt.»

So geht es weiter und weiter: Einer nach dem anderen notiert seine Glücksgedanken im Buch. Erst als es Mitternacht ist und der zwölfte Schlag der grossen Uhr verklungen ist, schliesst sich das goldene Buch wie von Zauberhand selbst. Auf der weissen Wand erscheinen in feierlicher, schnörkliger Schrift die Worte: «Teilt euer Glück auch im neuen Jahr mit anderen – denn geteiltes Glück ist doppeltes Glück.»

 

PDF der Weihnachtskarte 2017