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Seit einer Woche liegt das Flugticket schon auf Tanjas Küchentisch bereit. Daneben türmen sich Berge von T-Shirts, Shorts und andere Klamotten. Umrahmt wird das Ganze von einem Moskito-Spray, Sonnenbrille, Reiselektüre und einem himmelblauen Seidenschlafsack. «Himmlisch ist aber nicht nur der Schlafsack, himmlisch sind auch meine Aussichten!», geht es Tanja durch den Kopf, während sie übers ganze Gesicht strahlt.

Tanja hat gut lachen! Denn in nur 17 Stunden würde sie im Flieger nach Thailand sitzen. In Gedanken sieht sie sich bereits genüsslich an einem Prosecco nippen, während sie von ihrem Fensterplatz aus auf das nassgraue Schweizer Wetter herunterblickt. Später – auch dieses Bild sieht sie klar und deutlich vor sich – würde sie sich zehn Wochen lang die Sonne auf die Nasenspitze scheinen lassen. «Was will man mehr?», fragt sie Amolitto, ihr plüschiges Reisemaskottchen in Form eines Seepferdchens.

Ohne eine Antwort abzuwarten, wirft Tanja die Hände in die Luft und will sich mit einer schwungvollen Pirouette zur Küchentür drehen. Doch ihr rechter Fuss landet nicht wie geplant auf dem Boden, sondern verheddert sich im Rucksack, den sie drei Minuten zuvor an den Küchenstuhl gelehnt hatte. Und so wird aus der eleganten Primaballerina eine strauchelnde Tanja, die mit einem lauten «Aua!» seitlich auf den Boden knallt.

Ehe sie sich versieht, steht schon ihr Bruder neben ihr. Und noch bevor sie sich vom ersten Schreck erholt hat, sind die beiden auf dem Weg in die Notaufnahme des Spitals. Ihr Bein kann Tanja kaum noch bewegen. Kein Wunder – sie hat das rechte Kreuzband gerissen. Tränen rinnen ihr übers Gesicht, als der Arzt ihr die Diagnose mitteilt und in einer Selbstverständlichkeit verkündet, dass sie die Reise nach Thailand nicht antreten kann. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Definitiv nicht!

Ein paar Stunden später presst Tanja ihr verweintes Gesicht ins Kopfkissen und hofft vergeblich, dass sie wie aus einem bösen Traum erwacht. Doch statt aufzuwachen, gleitet sie in einen immer tieferen Schlaf. Nach der Abschiedsparty vom Vorabend ist sie so müde, dass ihr trotz ihrer misslichen Lage und des schmerzenden Knies die Augen zufallen.

Volle zehn Stunden später wird sie liebevoll von der strahlend hellen Sonne geweckt. «Doch halt – es ist Dezember – so hell kann die Sonne in dieser Jahreszeit doch gar nicht sein», überlegt Tanja im Halbschlaf. Verwirrt blinzelt sie ins Licht und merkt erst jetzt, dass sie von einer übergrossen Wärmelampe geweckt worden ist. «Was soll das?», faucht sie die falsche Sonne an, während sie plötzlich Meeresrauschen wahrnimmt. Sie versteht die Welt nicht mehr! Wild entschlossen will sich Tanja aufsetzen, wird von ihrem schmerzenden Knie jedoch unsanft in die Realität zurückgeholt. Plötzlich erinnert sie sich an ihren Sturz.

Doch bevor sie sich dieses unschöne Ereignis genauer ins Gedächtnis rufen kann, hört sie Stimmen: «Wenn du nicht nach Thailand kannst, dann kommt Thailand eben zu dir!» Erst jetzt erkennt Tanja ihre Familie und ihre zwei besten Freundinnen. Alle stehen sie in Flipflops und Strandbekleidung vor ihrem Bett, überreichen ihr einen frischen Kokosnussdrink und einen Teller mit thailändischen Köstlichkeiten.

Tanja treten erneut Tränen in die Augen. Diesmal allerdings sind es Freudentränen. Sichtlich gerührt nippt sie an ihrem Drink und fragt schliesslich in die Runde: «Tja, wer hätte gedacht, dass wir zusammen thailändische Weihnachten feiern?»

 

PDF der Weihnachtskarte 2014