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Diese Bahnfahrt ist anders als die vielen Reisen, die Grossvater seit seiner Pensionierung unternommen hat. Tausende von Kilometern hat er schon zurückgelegt und kennt die Schweiz besser als den Inhalt seines Badezimmerschrankes. Meist ist Paul alleine unterwegs. Doch heute ist sein Enkel Nico dabei, was in der Regel nur in den Schulferien oder am Sonntag der Fall ist. Heute sind weder Schulferien noch ist Wochenende. Es ist Dienstag. Ein besonderer Dienstag: der 6. Dezember 2016.

Paul ist gerne mit seinem Enkel unterwegs. Denn Nico hat eine blühende Fantasie und mit seiner frischen, quirligen Art entdeckt der Kleine auf ihren gemeinsamen Zugfahrten so manches, was Paul sonst verborgen bliebe. Neugierig presst Nico auch heute seine Nase an die Fensterscheibe und kommentiert pausenlos, was draussen alles vor sich geht. «Wahrscheinlich wirst du eines Tages mal Radio-Moderator», neckt Paul seinen Enkel und wuschelt liebevoll durch seine dunkelbraunen, wirren Haare.

Plötzlich – mitten in einer zauberhaften Märchenlandschaft, die Paul noch nie zuvor gesehen hat – bleibt der Zug stehen. Grossvater wundert sich über diesen Zwischenhalt, hat er doch seit einer ganzen Weile weder einen Bahnhof noch eine Menschenseele gesehen. Also steht er auf, schiebt die Fensterscheibe hinunter und streckt neugierig den Kopf aus dem Zug. Mittlerweile ist auch Nico aufgesprungen und blickt erwartungsvoll aus dem Fenster. Nichts. Nichts ausser einer wunderbaren Stille, verschneiten Hügeln und übergrossen, mit Schnee gezuckerten Tannenbäumen, so weit das Auge reicht. «Grossvater, schau mal, da hinten steht ein Esel direkt unter den zwei Bäumen auf dem kleinen Hügel!», erzählt Nico voller Begeisterung.

Grossvater blickt in die Richtung, in die Nico mit seiner wild fuchtelnden Hand deutet. Paul sieht nur die Schneelandschaft, kneift die Augen zusammen und blickt noch angestrengter in die gezeigte Richtung. «Wieso ist dieser Esel denn alleine?», sprudelt es aus Nico heraus. «Wo steckt denn bloss der Samichlaus?» Obwohl Paul noch immer keinen Esel entdecken kann, antwortet er bedächtig: «Vielleicht hat sich der Samichlaus ja verlaufen …»

Nico dreht den Kopf wieder zum Fenster, presst seine Augen ganz fest zusammen und hält für einen Moment die Luft an. «Was machst du denn da?», fragte der Grossvater verwundert. «Ich wünsche mir ganz fest, dass der Samichlaus seinen Weg doch noch findet», verkündet Nico mit flüsternder, geheimnisvoller Stimme. Doch noch bevor der Kleine seine Augen wieder geöffnet hat, setzt sich der Zug in Bewegung und der Hügel mit dem ominösen Esel liegt schon bald hinter ihnen.

Enttäuscht und ohne noch etwas zu sagen, setzt Nico sich zu seinem Grossvater und lehnt seinen Kopf an Pauls Oberarm. Dann plötzlich geht die Wagentüre auf und eine ungewöhnlich tiefe Stimme verkündet: «Ho, ho, ho! Nächster Stopp: Nikolausien!»

Ehe sich Paul versieht, steht Nico mit einem Freudensprung direkt vor dem Samichlaus und jubelt: «Tatsächlich, er ist es wirklich.» «Du hast mich doch gerufen, kleiner Mann!», sagt der Mann mit dem weissen Bart und dem roten Mantel in einer Selbstverständlichkeit. Schmunzelnd drückt er Nico einen grossen, mit Mandarinen und Nüssen gefüllten Chlaussack in die Hand. Dann bückt er sich zum staunenden Grossvater und flüstert ihm amüsiert zu: «Was doch alles möglich ist, wenn man es sich aus tiefstem Herzen wünscht!»

 

PDF der Weihnachtskarte 2016