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Es ist der erste Sonntag im November. Der Tag also, an dem sich die Bäume vom Eggwald seit über hundert Jahren auf dem Fabelberg versammeln, um vor Wintereinbruch noch ein wenig über das Baumleben zu sinnieren.

Wie jedes Jahr ist Frau Eiche als Erste da. Ungeduldig wippt sie mit den Ästen und lässt dabei geräuschvoll einige Eicheln auf den Boden fallen. Vielleicht treibt ihre übertriebene Betriebsamkeit die anderen ja an – wer weiss. Also schüttelt sie sich noch einmal von der Wurzel bis zur Krone, zupft ihr Blätterkleid zurecht und erblickt in der Ferne endlich ein paar vertraute Gestalten.

Unübersehbar sind sie, die Geschwister Ahorn. In ihrer feurig roten Robe leuchten sie um die Wette. Doch auch Familie Birke strahlt in den schönsten Herbstfarben und weiss die goldene Blätterpracht gekonnt in Szene zu setzen. Immer mehr Baumriesen treffen ein – und einer leuchtet farbiger als der andere. «So ein Augenschmaus!», denkt Frau Eiche und wischt eine Träne der Rührung ab.

Die Wiedersehensfreude ist gross. Nur die Tanne scheint etwas bedrückt. «Was ist mit dir los?», fragt der in der Nähe stehende Haselstrauch. «Freust du dich denn gar nicht, uns zu sehen?»

«Natürlich freue ich mich», gibt die Tanne zur Antwort. «Aber ich fühle mich ausgeschlossen. Schau mich doch einmal an: Ich bin die Einzige, die noch immer das gleiche grüne Kleid trägt! Ihr alle seid farbig, leuchtend und schön. Ihr tragt Eicheln und Nüsse mit euch herum. Nur ich, ich bin langweilig grün!»

Auf eine Reaktion wartend, blickt sie zum Haselstrauch. Erstaunt zeigt dieser mit einer Rute vor sich auf den Weg. Tatsächlich – da stehen zwei Menschen und schauen sich die Bäume an. Auch die Tanne verstummt. Sie will hören, was die beiden miteinander besprechen.

«Grossvater, schau nur all die farbigen Bäume! Und wie sie ihre Blätter im Wind tanzen lassen – ist das nicht wunderschön?» «Ja, das ist es!», antwortet der alte Mann seiner Enkelin. Fragend fügt er hinzu: «Siehst du auch den grünen Baum dort drüben, der neben dem Haselstrauch?»

Das Kind erblickt die Tanne und läuft direkt auf sie zu. Diese fühlt sich sichtlich unwohl. Sicher würde das Kind jetzt über ihr fades Grün spotten. Aber was soll sie machen – das Kind steht bereits bei ihr. Liebevoll legt es seine Hände um den Stamm. «Wie gut sich diese warmen Kinderhände doch anfühlen.», denkt die Tanne gedankenverloren. So etwas Schönes hat sie noch nie zuvor erlebt.

«Grossvater», schreit das Kind mit aufgeregter Stimme, «das ist unser Weihnachtsbaum! Sieh nur, er ist der Einzige, der auch im Winter noch grün ist und nicht wie die anderen Bäume seine Blätter verliert. Wie schön er ist!»

Um sich den geschmückten Weihnachtsbaum noch besser vorstellen zu können, kneift das Kind seine Augen etwas zusammen. Und da geschieht etwas Wundersames: Es beginnt zu schneien. Am Anfang sind es nur einzelne Flocken. Doch dann wirbeln plötzlich Tausende von Eiskristallen durch die Luft. Und jeder Einzelne, der auf den Zweigen der Tanne landet, verwandelt sich in ein glitzerndes, magisches Weihnachtslicht.

«Du bist der schönste Baum der Welt», sagt das Kind, während seine Hände noch immer auf dem Stamm der Tanne ruhen. «Ja, das bist du!», flüstert der Haselstrauch. Gerade so laut, dass es die Tanne hört. Sie nickt – dankbar und überglücklich.

 

PDF der Weihnachtskarte 2012