kopfhoerer ohne hg    

 

Es ist Anfang Dezember. Der Morgen ist grau und ein ungemütlicher Regen klatscht gegen die Fensterscheibe. Bereits zum dritten Mal klingelt der Wecker und Anne weiss: Wenn sie jetzt nicht aus dem wohlig warmen Bett kriecht, macht sie sich gleich zweimal unbeliebt. Zum einen bei Sheriff, ihrem halbjährigen Mischlingshund – zum anderen bei ihrem Chef, der sich in zwei Tagen für einen unverschämt langen Weihnachtsurlaub gleich selbst aus dem Arbeitsalltag entlässt. Also, nichts wie raus aus den Federn!

Eingepackt in wetterfeste Kleidung, geht Anne hinaus an die frische Luft. Und frisch ist es in der Tat! Sheriff scheint das jedoch nicht zu stören. Während sein Frauchen sich den Wollschal etwas fester um den Hals wickelt, ist er bereits auf Entdeckungstour – wie üblich direkt am Flussufer, damit er danach richtig schön nass und schmutzig ist. Im Halbschlaf setzt Anne einen Fuss vor den anderen, während ihre Gedanken bei ihrem Chef sind, den sie nun einen Monat lang vertreten soll. Und das, obwohl sie sich diese Aufgabe eigentlich gar nicht zutraut.

Ganz in Gedanken versunken, merkt sie plötzlich, dass Sheriff nur noch als kleines, braunes Pünktchen in einiger Entfernung auszumachen ist. «Was hat er bloss?», fragt sie sich und macht sich mit einem lauten Pfiff bemerkbar. Doch er bewegt sich nicht. Anne bleibt nichts anderes übrig, als zügig zu ihm zu laufen, um ihrem Sheriff Beine zu machen, damit sie es noch rechtzeitig ins Büro schafft – ohne Kaffee im Bauch, dafür mit unangenehmen Gedanken im Kopf und nasskalten Regentropfen im Gesicht.

Erst jetzt sieht sie, dass Sheriff nicht alleine ist. Neben ihm kauert ein alter Mann am Flussufer. In der einen Hand hält er eine Flasche, mit der anderen krault er das feuchte Fell des Vierbeiners. Kein Wunder, dass dieser sich taub stellt – gegen ein paar Streicheleinheiten hat er selten etwas einzuwenden. Anne bleibt stehen und begrüsst den Mann. Ihre Neugierde ist geweckt und so fragt sie den Fremden, weshalb er an diesem unfreundlichen Morgen schon so früh unterwegs ist.

Mit einem Lächeln richtet sich der Alte auf und hält die Flasche in die Luft. Erst jetzt sieht Anne, wie schön diese ist. Das Glas ist smaragdgrün, verziert mit einem violetten Samtband. Noch neugieriger schaut sie zuerst den Mann, dann die Flasche und schliesslich alle beide an. Da beginnt der Fremde zu erzählen: «Jedes Jahr im Dezember gehe ich hinunter zum Fluss und suche mir eine besonders schöne Stelle. Dort werde ich still und mache mir bewusst, was für einen Wunsch ich für die Menschen auf dieser Erde habe. Dann hole ich aus und werfe die Flaschenpost mit meinem Wunsch voller Schwung ins Wasser.»

Noch immer schaut Anne den Mann ziemlich verdutzt an und fragt: «Was wünschen Sie sich denn für die Menschen?» «Ich wünsche mir, dass wir Menschen uns wieder mehr dem Fluss des Lebens anvertrauen: Dass wir vom Wasser lernen, dass das Leben immer in Bewegung ist und selbst dann noch einen Weg findet, wenn sich ihm Steine in den Weg legen.»

Diese kraftvollen, einfachen Worte klingen bei Anne an. Sie, die so oft das Gefühl hat, gegen den Strom schwimmen zu müssen, statt sich dem Fluss des Lebens vertrauensvoll hinzugeben.

Also fragt sie den alten Mann: «Und, funktioniert es?» Statt einer Antwort drückt er ihr seine liebevoll gestaltete Flasche in die Hand. Anne holt aus und wirft die Flaschenpost ins Wasser – schwungvoll und zuversichtlich. Mit dem Wissen: Der Fluss des Lebens nimmt die guten Wünsche mit sich – und mit dem Vertrauen, dass sich diese Wünsche auch erfüllen werden.

 

PDF der Weihnachtskarte 2013