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Mit einem leisen Seufzer streicht sich Carole eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht und setzt sich erschöpft auf die Eckbank am Küchentisch. Eben hat sie ein Blech mit selbst gemachten Spitzbuben in den Backofen geschoben. Und das, nachdem sie nun schon seit geschlagenen drei Stunden mit ihren Kindern am Guetslibacken ist und ein Ende noch immer nicht in Sicht ist. Warum bloss hat sie sich in diesem Jahr sieben verschiedene Sorten ausgesucht, statt wie in den vergangenen Jahren einfach nur Mailänderli zu backen?

Noch während sie dieser Frage nachsinniert, wandert ihr Blick zum Fenster hinaus in den Garten. Dort ist ihr Mann gerade dabei, den am Vormittag erstandenen Christbaum auf eine Höhe von zwei Metern zu kürzen, damit dieser inklusive goldener Christbaumspitze in die Stube ihres gemütlichen Hauses am Dorfrand von Wildegg passt. Auch er sieht mittlerweile ziemlich abgekämpft aus. Die Kälte hat ihm ganz rote Wangen ins Gesicht gezaubert, die Mütze ist ihm etwas zu tief über die Augenbrauen gerutscht und der warme Atem sieht aus wie kleine Rauchzeichen in der klirrend kalten Winterluft.

Lea und Nina, die ebenfalls am Küchentisch sitzen, ist die Lust am Guetsliausstechen schon vergangen. Lieber stecken sich die Zwillinge den süssen Teig auf direktem Weg und ohne den Umweg über den Backofen in den Mund, bewerfen sich mit Haselnüssen und erzählen einander, was sie sich zu Weihnachten wünschen, anstatt ihrer Mama etwas zur Hand zu gehen. Aber was soll’s – wir waren ja auch mal Kinder!

Marco, der kleinste der drei Geschwister, sitzt im Schneidersitz auf dem Küchenboden und scheint von den vorweihnächtlichen Aktivitäten und der damit verbundenen Hektik nicht viel mitzubekommen. Zudem haben Weihnachtsgeschenke für den Zweijährigen noch nicht den gleichen Stellenwert wie für seine älteren Schwestern. Diese schwatzen in ihrer vorweihnachtlichen, nicht enden wollenden Wunschlisteneuphorie pausenlos über die neuste Barbie-Mode, eine sprechende Spielküche und die verschiedenen Überraschungsboxen von «Hello Kitty».

Währenddessen rutscht Marco mit verschränkten Beinen auf dem Boden herum und legt dabei eine Beweglichkeit an den Tag, die jeden Yogalehrer in Verlegenheit bringen würde. Aus dem alten Radio scherbelt «Jingle Bells» und der Kleine fängt augenblicklich und freudestrahlend an, in die Hände zu klatschen: zwar nicht im Takt der Musik, dafür aber mit viel Energie und Lebensfreude.

Plötzlich beginnt Marco in voller Lautstärke zu lachen und kann gar nicht mehr aufhören. Er lacht so laut, dass es sogar der Vater hört, der den gekürzten Christbaum eben an die Hausfassade gestellt hat und nun neugierig und verwundert zur Küchentür reinspaziert. «Was ist denn hier los?», fragt er seine Frau. Carole ist aufgestanden, um zu sehen, warum sich Marco auf dem Küchenboden kugelt vor Lachen, während Kater Mutzli mit einem grossen Satz die Küche verlässt.

Lea lüftet das Geheimnis und verkündet ausgelassen: «Marco hat in der Backofentüre sein Spiegelbild entdeckt und muss deshalb so lachen.» Keine Minute später haben sich Lea und Nina ebenfalls auf den Boden gesetzt und lachen gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder lautstark in den Backofen hinein.

Glücklich legt Carole ihrem durchfrorenen Mann den Arm um die Hüfte, als dieser den Kindern mit einem breiten Grinsen im Gesicht erklärt: «Jetzt wisst ihr, woher die Spitzbuben ihren Namen haben!»

 

PDF der Weihnachtskarte 2015