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Wie jedes Jahr am Silvester ziehen Luise und Klaus warme Kleider an und machen sich auf den Weg. Sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, den letzten Abend im Jahr mit einem ausgedehnten Waldspaziergang zu beschliessen.

Früher hatten sie jeweils noch ein Feuer entzündet und es sich mit Wolldecken und einer heissen Suppe gemütlich gemacht. Stundenlang sassen sie da, blickten in die Flamme, lauschten dem behaglichen Knistern und vergassen in der Wärme ihrer liebenden Herzen die Kälte der Winternacht. Das war vor langer Zeit.

Unterdessen ist ihr inneres Feuer abgekühlt. Aus der schönen Tradition ist eine Pflichtübung geworden und der Dezemberwind – so kommt es ihnen zumindest vor – ist dieses Jahr kälter und bissiger als je zuvor. «Der Winter ist auch nicht mehr das, was er mal war!», brummt Klaus mit mürrischer Stimme in seinen Schal. «Überhaupt ist nichts mehr so wie früher! Ach, könnten wir doch nur die Zeit zurückdrehen!»

Jetzt räuspert sich Luise: «Wo wird das alles bloss hinführen? Und was, wenn einer von uns krank wird? Das Leben ist wirklich nicht einfach!» Vor lauter Jammern haben die beiden nicht bemerkt, dass sie von ihrem Weg abgekommen sind. Erst jetzt sehen sie ein Feuer in der Ferne. Ohne weiterzusprechen, nähern sie sich neugierig dem Licht. Doch da ist nicht nur ein Feuer – da sind auch ganz viele Tiere, die fröhlich feiern.

Die beiden trauen ihren Augen nicht. Ungläubig schüttelt Klaus den Kopf, während Luise sich die Augen reibt. Doch es lodert tatsächlich ein Feuer und die Waldtiere werden immer ausgelassener. Eine Wildschweinfamilie tanzt im Kreis, die Eule erzählt den Feldmauskindern eine Adventsgeschichte und es duftet herrlich nach frischem Schlangenbrot. Plötzlich ruft das Eichhörnchen: «Wir haben neue Gäste!»

Erschrocken wollen sich Luise und Klaus umdrehen und nach Hause gehen. Doch der schlaue Fuchs ist von seinem Silvesternickerchen aufgewacht und fragt die beiden, ob sie nicht mit ihnen anstossen wollen – es hätte von allem genug und sie würden sich über Gesellschaft sehr freuen.

Schon hat der Hirsch eine Wolldecke neben dem Feuer ausgebreitet und seine Frau mit den rehbraunen Augen führt die Gäste zu ihren Plätzen. Das Eichhörnchen bringt Gläser zum Anstossen und ruft mit feierlicher Stimme: «Auf ein glückliches 2011!» Während die Tiere das Glas heben und sich voller Lebenslust zuprosten, schauen sich Luise und Klaus kritisch an. Mit zynischer Stimme sagt Klaus «Prost!» und seine Frau erwidert ängstlich: «Hoffen wir das Beste!»

Augenblicklich wird es still im Kreis der Tiere. Die Eule ergreift das Wort: «Gibt es einen Grund, weshalb ihr so missmutig seid, liebe Menschen? Heute ist Silvester – ein neues Jahr steht vor der Tür. Das ist doch ein Grund zum Feiern!»

«Früher war das schon so, früher war die Welt noch in Ordnung!», antwortet Klaus. Und seine Frau ergänzt: «Aber heute ist alles anders. Wir machen uns Sorgen, wie das Jahr werden wird. Habt ihr denn keine Zukunftsängste?»

Bedächtig streicht sich die Eule durch ihr Federkleid. «Ihr Menschen trauert der Vergangenheit nach und sorgt euch um die Zukunft. Dabei vergesst ihr, den Zauber des Augenblicks zu geniessen.»

Für einen Moment sagt niemand etwas – nur das Feuer knistert. Dann hebt das Eichhörnchen noch einmal sein Glas und ruft mit fröhlicher Stimme: «Auf diesen einzigartigen Augenblick!» Dann geht sie weiter – die Feier des Lebens.

 

PDF der Weihnachtskarte 2010